Frag immer erst: warum
(START WITH WHY)
Wie Topfirmen und Führungskräfte zum Erfolg inspirieren
Simon Sinek
Redline, 2014
Simon Sinek
Redline, 2014
Die Aussicht auf Belohnung oder die Androhung von Strafen – mit diesen Mitteln lassen sich Menschen leicht zum Handeln bewegen, auch im beruflichen Alltag. Sinnvoll und erfüllend ist dies jedoch für den Einzelnen nicht. Rund 80 Prozent der amerikanischen Angestellten sind mit ihrer Arbeit unzufrieden. Das schlägt sich natürlich in der täglichen Motivation und Leistung nieder. Besser wäre es umgekehrt, wenn nämlich 80 Prozent sich durch ihre Arbeit und durch die Unternehmensführung inspiriert fühlen würden. Menschen wie Steve Jobs, Martin Luther King und Walt Disney sind Beispiele für Führungspersönlichkeiten, die andere begeistern und mitreißen konnten. Ihr Erfolgsgeheimnis: Sie fragten immer zuerst: „Warum?“ So lieferten sie statt einer Anleitung zum Handeln die Begründung für das Handeln.
„Wir alle können führen lernen.“
Viele Unternehmen fragen heute jedoch selten nach dem Warum. Zudem wissen die wenigsten, warum ihnen ihre Kunden treu sind. Oft gehen diese Unternehmen, ganz im rationalen Denken verhaftet, davon aus, dass sie wahrscheinlich besser und billiger als die Mitbewerber sind. Statt Kunden und Angestellte zu inspirieren, binden Firmen Menschen durch Manipulation an sich. Dies können Preisnachlässe oder Rabattaktionen sein, oder es wird mit menschlichen Ängsten oder Wünschen gespielt. Auch Gruppenzwang-Argumente wie „Vier von fünf Zahnärzten empfehlen das Produkt“ sind manipulativ. Ebenso bloße Produktmodifizierungen oder neue Verpackungen, die als Innovation verkauft werden.
„Um Menschen zu beeinflussen, kann man zwei Methoden einsetzen: Manipulation oder Inspiration.“
Über kurz oder lang bemerken die meisten Menschen die Täuschung. Manipulation bringt weder beim Kunden noch beim Mitarbeiter Loyalität. Daher sind solche Taktiken nur sinnvoll, wenn es sich um einmalige Transaktionen oder Kontakte handelt, etwa wenn in der polizeilichen Verbrechensbekämpfung für die Ergreifung eines Gesuchten eine Belohnung als einmaliger Anreiz winkt. Unternehmen sollten dagegen nicht manipulieren, sondern inspirieren.
„Führerschaft ist die Fähigkeit, Menschen nicht nur für ein einzelnes Ereignis, sondern über Jahre hinaus zu mobilisieren.“
Inspirierende Führer handeln gemäß dem „goldenen Kreis“ (in Anlehnung an den Goldenen Schnitt in der Kunsttheorie), und zwar von innen nach außen: Im Kern des aus drei Kreisen bestehenden Gebildes steht die Frage „Warum?“ (Warum tun wird das?), im mittleren Kreis die Frage „Wie?“ (Wie tun wir es?) und im äußeren die Frage „Was?“ (Was tun wir?). Damit der Kreis funktioniert, müssen sich seine Teile im Gleichgewicht befinden. Wenn Sie das Warum kennen, definieren Sie das Wie: Formulieren Sie es als Aufforderung, indem Sie beispielsweise das Nomen „Integrität“ durch „Tue immer das Richtige“ und das Nomen „Innovation“ durch „Betrachte das Problem immer aus einer anderen Perspektive“ ersetzen. Das Was im äußeren Kreis ist dann nur ein materielles Abbild Ihrer Beweggründe: Ihr Produkt oder Ihr Unternehmen. Apple ist hier ein gutes Beispiel: Der grundsätzliche Beweggrund („Bei allem, was wir tun, geht es uns darum, das Bestehende infrage zu stellen. Wir glauben daran, dass man anders denken muss.“) spiegelt sich in jedem Produkt wider. Der Mac hat mit seiner neuartigen Benutzeroberfläche das auf einer verzwickten Computersprache basierende PC-Betriebssystem infrage gestellt, iTunes die Vertriebswege der Musikindustrie und das iPhone die Art, wie wir telefonieren. Indem Apple konstant revolutionäre Innovationen lanciert, wird dieser Beweggrund immer wieder bestätigt.
„Wir sagen, was wir tun, wir sagen, wie wir es tun, aber wir sagen fast nie, warum wir tun, was wir tun.“
Die Funktionsweise des goldenen Kreises ist biologisch begründet. Unser Gehirn besteht aus zwei Regionen: dem limbischen System, in dem Gefühle, Vertrauen und Treue verwurzelt sind, und der äußeren Hirnrinde, dem Neokortex, der für das rationale, analytische Denken verantwortlich ist. Das Was wird ausschließlich durch den Neokortex erfasst, unsere Gefühle bleiben dadurch unberührt. Daher lassen wir uns durch Manipulationen wie Preise oder Sonderangebote so leicht beeinflussen. Entscheiden wir dagegen über das limbische System, fühlen wir, dass wir richtig handeln. Wir handeln im Sinne unserer eigenen Wertvorstellungen. Kann ein Unternehmen das Warum vermitteln, trifft der Kunde seine Entscheidung über das limbische System. Dem Neokortex fällt in der Folge die Aufgabe zu, die Gründe rational und in Worten zu erklären. Fragt man einen Mac-Käufer, warum er für einen Computer 25 Prozent mehr zahlt, als ein vergleichbarer PC kosten würde, kann er das entweder gar nicht erklären oder er flüchtet sich in beliebige rationale Argumente. Ähnliches gilt auch für die Apple-Angestellten: Viele würden bei der Konkurrenz mehr Geld erhalten, doch sie bleiben ihrem Unternehmen treu – eine Herzensangelegenheit und Glaubenssache.
„Zu wissen warum, ist nicht der einzige Weg zum Erfolg, aber es ist der einzige Weg, um den Erfolg langfristig zu sichern und eine bessere Mischung von Innovation und Flexibilität zu erreichen.“
Das Warum entsteht meist weit vor der Gründung eines Unternehmens und ist oft im Werdegang des Gründers verwurzelt. Dieser entwickelt einen lange bestehenden inneren Beweggrund zu einer Idee – er erfindet nicht einfach etwas Neues. Durch seine Leidenschaft angesteckt, unterstützen ihn andere in seinem Tun; dabei entsteht eine organisierte Struktur. Auch ein Bill Gates und ein Martin Luther King haben Menschen gebraucht, die wussten, wie sich die jeweilige Idee umsetzen ließ.
„Produkte mit einer klaren Antwort auf die Frage nach dem Warum geben den Menschen die Möglichkeit, der Welt mitzuteilen, wer sie sind und an was sie glauben.“
Warum-Typen sind Visionäre, die in der Zukunft leben. Wie-Typen hingegen sind Realisten, im Hier und Jetzt zu Hause. Nur wenn beide in einem Unternehmen arbeiten, lässt sich wirklich Großes erreichen. Ein Visionär allein scheitert an der Umsetzung seiner Idee, den Realisten fehlt diese. Wenn Sie eine Führungsrolle innehaben, ist es Ihre Aufgabe, Menschen zusammenzubringen und ihnen genügend Raum und Vertrauen zu bieten, sodass sie an ihre Grenzen gehen können. Ihre Mitarbeiter müssen jeden Tag aufs Neue erleben können, dass sie verstanden werden und dass sie Ihnen trauen können. Inspirieren Sie sie täglich durch aktives Vorleben der Unternehmenswerte.
„Das Was ist wichtig – es stellt den materiellen Nachweis für das Warum dar – aber Warum kommt immer zuerst.“
Vertrauen lässt sich kurzfristig durch Manipulation erreichen. Wenn „vier von fünf Zahnärzten“ eine Empfehlung aussprechen oder ein Prominenter für ein Produkt Werbung macht, dann muss es ja gut sein. Doch Loyalität entsteht nicht, wenn das Vertrauen nicht bestätigt wird. Menschen trauen denen, die sie kennen und die die gleichen Wertvorstellungen haben. Nicht selten teilen Menschen, die einander vertrauen, eine gemeinsame Vergangenheit, wie die Beispiele der Brüder Walt und Roy Disney, der Studienkollegen Bill Gates und Paul Allen oder der Highschool-Freunde Steve Jobs und Steve Wozniak zeigen. Es liegt in unserer Natur, dass wir nach Gemeinschaft suchen. Nicht immer ist dabei die Kultur, in die wir hineingeboren wurden, die, die zu uns passt. Also suchen wir uns eine neue. Das gilt auch für unsere Arbeit. Hier suchen wir ebenfalls nach Menschen, die unsere Werte teilen. Haben wir sie gefunden, tun wir alles, um dabeizubleiben. Wir erleben Kollegen als Kameraden und arbeiten gemeinsam für eine Sache. Daher sind Firmen so stark, deren Mitarbeiter gemeinsame Werte und Überzeugungen haben, die zugleich auch die Werte des Unternehmens widerspiegeln.
„Es sind die tief sitzenden limbischen Gefühle, die Loyalität zur Folge haben.“
Als Führungskraft müssen Sie stets nach Menschen suchen, die zum Warum Ihrer Firma passen. Platzieren Sie die Grundidee Ihres Unternehmens bereits in Stellenausschreibungen und reihen Sie nicht nur fachliche Voraussetzungen aneinander. Sonst besteht die Gefahr, dass Sie vielleicht thematisch fähige Menschen, aber keine motivierten Mitstreiter finden, die Sie mit dem Wissen um den Zweck ihrer Arbeit inspirieren können. Auch Kunden wollen Teil einer Gemeinschaft sein. Lässt sich dies durch den Kauf eines bestimmten Produkts erreichen, das die eigenen Werte und Wünsche widerspiegelt, rücken Aspekte wie Preis und Aufwand in den Hintergrund. Ein im Zug oder am Flughafen aufgeklappter Mac-Computer oder das Vorfahren mit einer Harley-Davidson sorgen dafür, dass uns Menschen ganz automatisch einer bestimmten Gruppe zuordnen.
„Große Unternehmen stellen nicht nur fähige Bewerber ein und motivieren sie, sie stellen bereits motivierte Bewerber ein und inspirieren sie.“
Mit einer gaußschen Glockenkurve, die die Gesamtpopulation darstellt, lässt sich erklären, wann Innovationen sich durchsetzen. Aufgeteilt in fünf unterschiedlich große Segmente finden sich ganz links der Kurve die Innovatoren mit einem Anteil von 2,5 Prozent. Dann folgen die frühen Übernehmer (Early Adopters) mit 13,5 Prozent. Sie entwickeln keine Innovationen, sind aber die Ersten, die bereit sind, sie auszuprobieren. Darauf folgen mit jeweils 34 Prozent zunächst die frühe, dann die späte Mehrheit. Die Nachzügler bilden mit 16 Prozent das Schlusslicht. Sowohl frühe wie späte Mehrheit sind praktisch orientiert und akzeptieren Innovationen erst, wenn rationale Faktoren sie davon überzeugen. Sie sind für Manipulationen empfänglich. Als Innovator sollten Sie sich vollkommen auf die frühen Übernehmer konzentrieren – selbst dann, wenn Sie den Massenmarkt erreichen wollen. Wenn Sie die Early Adopters zu loyalen Kunden machen können, werden Sie in der Folge auch die frühe und späte Mehrheit sowie die Nachzügler überzeugen.
„Nur wenn Individuen ihrer Kultur oder Organisation trauen können, werden sie persönliche Risiken auf sich nehmen, um die Kultur oder die Organisation als Ganzes weiterzuentwickeln, weil es letztendlich für ihre persönliche Gesundheit und ihr eigenes Überleben wichtig ist.“
Eine inspirierende Führungspersönlichkeit bildet die Basis für den Erfolg einer Firma, aber es braucht auch Menschen, die mit anpacken. Stellen Sie sich den goldenen Kreis dreidimensional, als Kegel, vor: Der obere Teil symbolisiert den Chef, das Warum. Das darunter angeordnete Wie sind die leitenden Angestellten, und das Was ist das übrige Personal. Der Markt lässt sich als Zylinder unterhalb des Kegels darstellen. Der Kontakt zwischen Markt und Unternehmen findet somit allein über die Was-Ebene statt. Genau darum ist es so wichtig, dass sich das Warum in allen Produkten und Dienstleistungen, im Marketing und Branding klar erkennen lässt. Ihr Firmenlogo werden Sie nicht selbst mit einem Wert aufladen können, das obliegt Ihren Kunden: Es sind die Menschen, die einem Symbol eine für sie individuelle Bedeutung zukommen lassen. Haben Sie Ihre Beweggründe jedoch klar kommuniziert, werden die Menschen Ihr Logo automatisch mit den richtigen Unternehmenswerten verbinden.
„Einen erfolgreichen Nachfolger finden heißt mehr als die Auswahl einer Person, die über die richtigen Fähigkeiten verfügt – es geht darum, jemanden zu finden, der mit dem ursprünglichen Beweggrund, aus dem heraus die Firma gegründet wurde, harmoniert.“
Durch ein klares Warum wecken Sie aber auch Erwartungen, die dauerhaft bedient werden müssen. Sie müssen darum bereit sein, konstant Einsatz zu zeigen und Ihre Beweggründe immer wieder zu bestätigen. Dabei besteht die Gefahr, sich am Erfolg anderer (Best Practice) zu orientieren. Doch Sie können Organisation und Struktur (das Wie) sowie das Angebot (das Was) anderer Firmen nicht einfach kopieren, wenn die Werte Ihres Unternehmens (das Warum) andere sind.
„Das Warum ist eine Entdeckung, keine Erfindung.“
Nicht selten sorgt ausgerechnet der Erfolg dafür, dass das Warum auf der Strecke bleibt. Schnell basieren Entscheidungen dann auf rationalen Überlegungen. Sam Walton gründete Wal-Mart mit dem Ziel, sich um die Menschen zu kümmern und ihnen als Dienstleister zu dienen. Kunden und Mitarbeiter fühlten sich stets gut und fair behandelt. Nach seinem Tod wurde das Warum jedoch vergessen und damit auch der Grund, warum die Preise billig sein sollten. Die Nachfolger wollten einfach nur noch billiger sein, und das ging auf Kosten der Kunden und der Mitarbeiter. Damit die Idee des Gründers nicht verloren geht, sollten Sie von Beginn an den Gründungszweck fest in die Firmenkultur einbetten. Und da nicht selten der Chef selbst das Warum verkörpert, ist es wichtig, sich frühzeitig mit der Führungsnachfolge auseinanderzusetzen. Suchen Sie nach einer Person, die nicht ihre eigenen Visionen umsetzen möchte, sondern weiter im Sinne der ursprünglichen Beweggründe agiert und entscheidet. Selbst in schwierigen Zeiten sichern Sie so den Fortbestand des Unternehmens. Denn das Warum bildet die Basis dafür, je nach Situation angemessene Produkte zu entwickeln.
Fragt man Mitarbeiter nach den Beweggründen ihres Handelns, weiß zwar jeder, was er tut, und meistens auch noch, wie. Warum die Firma aber genau so agiert und dieses Produkt oder diese Dienstleistung anbietet, wissen die meisten Befragten nicht. Die wirklichen Beweggründe der Firma (Warum existiert das Unternehmen? Warum sollten sich die Menschen für uns interessieren?) kennen sie nicht. Oft definieren sich Firmen über ihr Produkt oder ihre Dienstleistung. Doch Differenzierung über das Angebot ist anstrengend, da unzählige weitere Unternehmen im gleichen Teich fischen. Um sich dennoch abzugrenzen, greifen dann viele zu manipulativen Techniken. Erfolgreiche Führungspersönlichkeiten hingegen binden Kunden und Mitarbeiter durch Inspiration. Menschen wie Bill Gates überzeugen durch Charisma und Optimismus, sie inspirieren jeden, der mit ihnen zusammenarbeitet. In allem, was Gates tut, lebt er den unbedingten Glauben, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt. Wer den Sinn seines Handelns durch ein Warum definiert hat, wird wie Gates immer neue Wege entdecken, ihn in Form von Aktivitäten zum Ausdruck zu bringen. Gleichzeitig zieht man Menschen an, die dieselben Beweggründe haben.
Simon Sinek gründete 2002 sein Unternehmen Sinek Partners und berät seitdem international tätige Unternehmen und Institutionen wie die UN, Microsoft und American Express. Zudem lehrt er an der Columbia University strategische Kommunikation und schreibt für verschiedene US-Medien wie die Washington Post und das Wall Street Journal.
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